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Mindestlohn-Talk bei Jauch

Posted by Frank on 3. März 2015 in Arbeit, Leben, Politik, Zeitgeschichte |

„Aber Sie haben das Gesetz doch mit uns gemacht“

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Seit zwei Monaten gilt der Mindestlohn: Zeit für eine erste Bilanz bei Günther Jauch. Arbeitsministerin Nahles erklärt, das Gesetz müsse sich noch „zurechtruckeln“ – und wundert sich über Ilse Aigner.

Hätten gewisse schwarzgelbe Propheten recht behalten, so müssten jetzt hierzulande wahlweise DDR-Verhältnisse herrschen oder gerade eine Million Arbeitsplätze verlorengehen. Denn seit Jahresanfang ist er nun da, der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro, gegen den einst Politiker von Union und FDP mit solch ideologisch aufgeladener Inbrunst polemisierten, als drohe durch dieses in vielen Ländern längst übliche Regulativ der Untergang des Wirtschaftsstandorts.

Günther Jauch hatte sich vorgenommen, nach zwei Monaten eine erste Bilanz zu ziehen. Und was sie erbrachte, war teilweise erschütternd, auch wenn es dabei keineswegs um die seinerzeit beschworenen Horrorszenarien ging, sondern um die schlichte Umsetzung des Gesetzes im Arbeitsalltag.

Wie sehr es daran hapert, ließ sich an einer Fülle von Beispielen illustrieren, anschaulich geschildert etwa vom Taxifahrer, der Servicekraft oder dem Zeitungsausträger, die durch Tricks der Arbeitgeber im wahrsten Sinn um ihren neuen Lohn gebracht werden. Da werden Zuschläge gestrichen, Stundenzahlen bei gleichbleibendem Pensum gekürzt, verzehrte Getränke und Trinkgelder verrechnet oder gar Abnutzungsgebühren für Fleischermesser erhoben – ein erstaunlicher unternehmerischer Erfindungsreichtum mit der Folge, dass den Beschäftigten Nach- statt Vorteile entstehen.

„Bekannte Umgehungsstrategien“

lautete denn auch der Befund des Sozialwissenschaftlers Stefan Sell mit Blick auf die Praktiken in Branchen, in denen es bisher schon den Mindestlohn gab; es fehle an ausreichenden Kontrollen. Und Arbeitsministerin Andrea Nahles musste gleich zu Beginn einräumen, sie könne „nicht zufrieden sein“.

Inzwischen hat sie eine Hotline eingerichtet, auf der bereits 32.000 Beschwerden eingingen. Da werde vielfach „Schindluder mit Unwissenheit getrieben“, beklagte sie und bekannte fast treuherzig, sie mache „jeden Tag neue Entdeckungen“. Weit entfernt von jedem Triumphalismus darüber, dass es das lang erstrebte Gesetz nun endlich gibt, sprach sie davon, dass dieses noch „bei den Leuten ankommen“, sich das Ganze „zurechtruckeln“ müsse.

Klagen über angeblichen bürokratischen Mehraufwand durch Arbeitszeitdokumentation wollte die Ministerin aber nicht gelten lassen. Das Verdikt der Genossin Fahimi, ihrer Nachfolgerin im Amt der Generalsekretärin, mochte sie sich aber nicht direkt zu eigen machen. Sie hatte gesagt, Arbeitgeber, die keinen Schichtzettel ausfüllen könnten, seien „entweder Gauner oder zu doof“.

Doch genau dies war der Punkt, an dem etwas Zunder in die insgesamt eher sachliche und selten wirklich kontroverse Veranstaltung kam. Es saß dort nämlich auch der sächsische Bäckermeister Roland Ermer, der sich sehr wohl wünschte, „lieber Brötchen zu produzieren als Papier“. Er durfte als leibhaftiger Beleg dafür herhalten, dass eben nicht mehr bezahlt werden kann als erwirtschaftet wird, vor allem nicht im Osten der Republik, auch wenn das politisch nicht so gern thematisiert wird. Die Hälfte seiner einst sechs Filialen hat er schließen müssen, auch wegen des Drucks der industriellen Konkurrenz auf das traditionelle Handwerk.

Vor allem aber saß da Ilse Aigner, die bayerische Wirtschaftsministerin, die exakt nur die eine Sorge zu kennen schien, die Arbeitgeber könnten nun allesamt unter Generalverdacht gestellt werden, so wie es auch Bäcker Ermer befürchtete. Ihr Hauptargument: „Ich komme aus dem Handwerk, aus dem Mittelstand.“ Und außerdem sei sowieso klar: „Wer betrügen will, der betrügt.“

Ob er auch fliegt, sagte sie nicht, wohl aber gab sie ziemlich deutlich zu verstehen, dass ihr die Mindestlohnregelung, so wie sie ist, irgendwie doch nicht so richtig gefällt. Ministerin Nahles sah sich zu der leicht irritierten Feststellung veranlasst:

„Aber Sie haben das Gesetz doch mit uns zusammen gemacht.“

Es war der Linke Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, der bitter daran erinnerte, dass Deutschland mit dem Mindestlohngesetz ohnehin Jahre hinterherhinke und gerade sein Land lange mit seinen Niedriglöhnen geworben habe. Und ihm, dem erfahrenen Gewerkschafter, war es auch zu verdanken, dass die streckenweise eher oberflächliche Diskussion mit Tendenz zum technokratischen Kleinklein zumindest zeitweilig in einen grundsätzlicheren Kontext gebracht wurde.

Ramelow versuchte den Blick auf die völlig veränderte Tariflandschaft zu lenken, in der heute die Konzerne herrschten und nicht mehr die alten Vertragssicherheiten. Ganze Branchen hätten sich kannibalisiert, wobei die „Geiz ist geil“-Mentalität sich letztlich zulasten aller auswirke, auch des Bäckermeisters. Es wäre gewiss lohnend gewesen, an dieser Stelle ein bisschen mehr in die gesellschaftspolitische Tiefe zu gehen. Aber dazu kam es dann leider doch nicht.

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